Weltwissen. Die Wissensformen globaler science-policy Plattformen am Beispiel des Weltbiodiversitätsrats.
HS 2020 Luzern: Weltwissen I. SS 2021 Berlin: Weltwissen II.
Die beiden Seminare beschäftigten sich mit Wissen und Wissensformen, institutioneller Form und Arbeitsweise von „intergovernmental science-policy platforms“. Solche Plattformen für „Biodiversity and Ecosystem Services“, „Climate Change“, „Agriculture Knowledge, Science and Technology“, „on Soils“, „to Combat Desertification“,* etc., sind eine Wissensform des 21. Jahrhunderts. Vielleicht ist ihr „Weltwissen“ das entscheidende Wissen dieses Jahrhunderts.
* Also:
IPBES: Intergovernmental Science-Policy Platform for Biodiversity and Ecosystem Services (Weltbiodiversitätsrat)
IPCC: Intergovernmental Panel on Climate Change (Weltklimarat)
IAASTD: International Assessment of Agricultural Knowledge, Science and Technology for Development (Weltagrarrat)
ITPS: Intergovernmental technical panel on soils
UNCCD: United Nations Convention to Combat Desertification
Kürzlich machte Aske Teis Wiborg (Master-Absolvent am Institut für Philosophie, Literatur-, Wissenschafts- und Technikgeschichte an der TU Berlin) auf die Möglichkeit aufmerksam, diese Institutionen mit Peter Sloterdijk (1993) als Institutionen einer „Weltwache“ anzusprechen, als „eine evolutionär gesteigerte Qualität von Weltwache“.
„Denn für die aktuelle Menschheit wird ihr reales gemeinsames Haus im Augenblick seiner Zerstörung zum ersten Mal insgesamt und richtig sichtbar. Beim Versuch der Völker, in es umzuziehen, entdecken sie es als etwas, das schon unaufhaltsam in Verwüstung begriffen ist. […] eine neue internationale Arbeitsteilung der Weltwache […] muß zunächst innerhalb jeder Gesellschaft die hochkulturelle Arbeitsteilung zwischen den Philosophen und den Politikern aufheben. Die alte Lehre von der Weltweisheit verwandelt sich in eine planetarische Fakultät der Weltwache – in eine neue mobile Universität.“ (Sloterdijk: Weltfremdheit (1993), S. 379.)
Dreißig Jahre nach Sloterdijks Diktum, nach Entstehung von intergovernmental science-policy platforms, scheinen Universitäten, wie mobil auch immer, nicht mehr der Rahmen zu sein, in dem das Wissen der Weltwache generiert wird. Zwischenstaatlich agierende Institutionen mit Hundeten von WissenschaftlerInnen, deren Konferenzen auf tagelangen Sitzungen jeden Satz des Summary for Policymakers eines mehrere tausend Seiten umfassenden Assessments zwischen den anwesenden WissenschaftlerInnen verhandeln, setzen neue Maßstäbe. Die Assessments von intergovernmental science-policy platforms werden, im Fall etwa des IPBES, in jahrelanger Arbeit zwischen den Regierungen von 140 Ländern erarbeitet, seit 2012 in mehreren thematischen Assessments (Biodiversity and Climate Change, Pollination, Invasive alien species, Use of wild species, Land degradation, etc.), vier regionalen Assessments (Africa, The Americas, Asia and Pacific, Europe and Central Asia), methodischen Assessments (Guide on the production of Assessments, Scenarios and models, Values Assessment, etc.) und bis Mai 2019, also einige Monate vor Ausbruch der Corona-Pandemie, einem Global Assessment. Die gesamte Arbeit an diesen nur noch digital adressierbaren Texten ist, inklusive aller Vorstufen, Einwände, Diskussionen, über wenige Clicks auf den Websiten der Plattformen erreichbar, down to the last SDG (sustainable development goal). Die Lektüre dieser völlig unerforschten, riesenhaften Wissensproduktion ist ein Abenteuer und bedarf einiger Übung.
Die beiden Seminare (sie waren einst vom Thema des Insektenschwunds ausgegangen, also dem 800-seitigen Thematic assessment on pollinators, pollination and food production des IPBES von 2016) versuchen erste Schritte in die Lektüre solcher Assessments am Beispiel des Weltbiodiversitätsrats. Dabei kommen grundsätzliche Fragen nach der institutionellen Form dieses Wissens, seiner Fähigkeit zur Selbstreflexion, seinem Verhältnis zur Wissenschaft, nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Meta-Wissenschaft (so genannter „Aus-wertung“), nach Form und Inhalt des „Planetarischen“, „Globalen“, so wie nach den Grenzen überhaupt des westlichen, abendländischen Wissens und des Wissens anderer Kulturen, so genanntem Indigenous Local Knowledge ILK, zur Sprache. In den Schemata aller Assessments des IPBES ist das Western Knowledge, also was in Tausenden von wissenschaftlichen Arbeiten steht, in grüner Farbe, das indigene Wissen in blauer Farbe dargestellt.